Der Reset Button meines Lebens - Genesungstagebuch 2017 - Teil 1

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Meine Leidenschaft ist der Segelsport. Hier am Steuer einer Bavaria 46 in den Gewässern der Kornaten, Kroatien im August 2013.

Das Leben ist schön

Endlich finde ich die Zeit, mich hier richtig vorzustellen. Ich heiße Gerd-Thomas Reichert, Freunde und Familie nennen mich einfach Thomas. Ich bin seit 33 Jahren glücklich verheiratet, habe zwei erwachsene Töchter und (vorerst) ein Enkelkind. Beruflich bin ich seit 1997 in der IT-Branche tätig. Selbständig. Die Begeisterung für Elektronik und Computer begann bereits in meiner Kindheit und Jugend.

Ich liebe die Freiheit, das Meer, sonnige Strände und Segelboote. Natürlich besitze ich kein eigenes Boot. Als junge Familie hatten wir unsere Ersparnisse in das eigene Haus und Grundstück investiert und uns quasi sesshaft gemacht. Als unsere Kinder noch klein waren, zog es uns im Urlaub aber immer gen Süden. Portugal (Algarve), Kanarische Inseln, Griechenland (Rhodos) usw. Die Hauptsache Sonne, Strand und Meer. Bootsausflüge gehörten schon immer mit dazu. Das übliche Touristenprogramm. Segelyachten, denen wir dabei begegneten weckten in mir immer geheime Sehnsucht, habe aber jeden weiteren Gedanken daran verworfen. Unerschwinglich. Die Lebenswünsche unterliegen finanziellen Limits und man muss Prioritäten setzten. Meine Prioritäten liegen eindeutig beim Wohl meiner Familie, inklusive gemeinsamer Urlaubsreisen.

Der Schock

Ich habe Krebs. Die blutbildenden Stammzellen im Knochenmark sind befallen. Konkret: am 29. Juli 2016 wurde bei mir Hochrisiko-MDS RAEB-II diagnostiziert. Ich brauchte einige Zeit um diese Nachricht zu verarbeiten. Entsetzen. Zuerst Alpträume, dann Hoffnung und Zuversicht. Ich begann mich über die Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten zu Informieren. 2017 sehe ich als große Chance, als den Reset-Button meines Lebens.


Auf der Isolierstation der Hämatologie / Onkologie im Küchwald-Klinikum Chemnitz. In den letzten paar Wochen habe ich unfreiwillig 20 kg Gewicht verloren. Das sieht man mir an.

Ab heute möchte ich hier sowohl ein Genesungstagebuch schreiben als auch einiges mehr über mich berichten. Vor allem möchte ich Menschen in ähnlichen Situationen Mut machen. Egal ob sie selbst oder Angehörige bzw. Freunde betroffen sind. Es kann jeden treffen. Unerwartet, mitten im Leben.

Die Erkrankung Myelodysplastisches Syndrom, kurz MDS kann sich über viele Jahre völlig unbemerkt entwickeln. Sobald die Symptome aber deutlich werden, wird sich der weitere Verlauf beschleunigen. Fast wie bei einer Exponentialfunktion.

Frühe Anzeichen

Physisch zeigt sich die Krankheit durch zunehmende Infektanfälligkeit, nachlassender Kraft, zunehmendem Schlafbedürfnis und letztlich Luftnot und Herzschmerzen bei länger dauernder körperlicher Anstrengung. Die Symtome entwickelten sich bei mir so allmählich, dass ich sie selbst lange nicht bemerkte.

Als ich auf diese Symptome angesprochen bzw. sie doch endlich selbst bemerkte (das begann vor sieben oder acht Jahren), habe ich sie auf beruflichen Stress, Kontakt mit vielen Menschen, unzureichende Vitaminzufuhr, mangelnde Bewegung und Übergewicht zurückgeführt. Außerdem war ich schon Ende 40, also nicht mehr der Jüngste.

Gegensteuern im Blindflug

Ich war ein Arztmuffel. In völliger Unkenntnis der Erkrankung steuerte ich auf meine Art gegen die Symptome: Ich besuchte ein Fitnessstudio, das mache aber keinen Spaß, und so gab ich das bald wieder auf.
Durch das Fitnessstudio angeregt, befasste ich mich mit eiweißreicher, kohlehydratarmer Ernährung und entwickelte meine eigene Diät: ein kleines Frühstück, z.B ein Ei, tagsüber Nüsse und ein wenig Obst, abends ordentlich gutes Fleisch oder Fisch zum satt werden, als Beilage Gemüse oder Salat. So gelang es mir innerhalb weniger Wochen mein Körpergewicht von 106 kg auf 94 kg abzuspecken und zu halten. Außerdem habe ich mir einen Hund angeschafft, damit ich täglich einen Grund zum Laufen habe.


Meine Frau und ich in Marciana Marina, Elba, Italien

Meine Frau hat sich seit dieser Zeit ebenfalls intensiv mit gesunder Ernährung auseinander gesetzt, so dass sich unsere ganze Lebensweise in den letzten Jahren änderte. Ich nehme an, dass all dies den Ausbruch der Krankheit um Jahre verzögerte. Verhindern konnte es das Fortschreiten der Erkrankung nicht.

Was passiert da eigentlich in meinem Körper?

Normalerweise teilen sich gesunde blutbildente Stammzellen fortlaufend, um sich anschließend zu spezialisieren. Rund die Hälfte der Tochterzellen reift wiederum zur teilungsfähigen Stammzelle, damit diese nie ausgehen, die restlichen entwickeln sich entweder zu Erytrozyten, das sind die roten Blutkörperchen für den Sauerstofftransport. Oder sie spezialisieren sich zu Thrombozyten, den Blutplättchen, welche bereit stehen um bei Bedarf irgendwelche Wunden zu verschließen oder sie reifen zu Leukozyten, den weißen Blutkörperchen und arbeiten fortan als Bestandteil des Immunsystems für den Körper.

Wichtig: alle diese Zellen im Blut (Erytrozyten, Thrombozyten, Leukozyten) haben nur eine begrenzte Lebensdauer (wenige Stunden bis wenige Wochen). Sie vermehren sich nicht selbst, sondern werden im Knochenmark von den blutbildenden Stammzellen ständig nachgebildet (wie oben beschrieben).

Irgend etwas läuft gewaltig aus dem Ruder.

Bei mir begann es wahrscheinlich vor vielen Jahren mit einer einzigen mutierten Stammzelle. Mutationen bei Zellteilungen sind nicht ungewöhnlich. Sie treten täglich mehrfach bei jedem Menschen auf. Wenn die Zelle durch die Mutation Ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann, tritt entweder der programmierte Zelltot ein, eine wunderbare Erfindung der Natur und/oder die Zelle wird vom gesunden Immunsystem beseitigt. Normalerweise klappt das. In diesem Fall klappte das leider nicht.

Die Krankheitsauslösende Mutation bei einer meiner Stammzellen hatte mehrere Folgen: Zum einen wurde hier der programmierte Zelltot außer Kraft gesetzt, zum anderen kam es zu einem geringen Geschwindigkeitsvorteil bei der Zellteilung. Im Laufe der Jahre haben sich die Nachkommen der mutierten Stammzelle im Knochenmark ausgebreitet und die normalen, gesunden Stammzellen zurückgedrängt. Das ist reine Mathematik.

Wie oben beschrieben, entwickelt sich rund die Hälfte der Stammzellen nach der Teilung weiter zu einer der verschiedenen Blutzellen. Dummerweise reifen die sich ständig vermehrenden Abkömmlinge dieser Zelle nicht zu funktionsfähigen Blutzellen heran, sondern verbleiben als unreife sogenannte Blasten im Knochenmark. Einige unreife Blasten sind kein Problem, sie werden von gesunden Immunzellen abgebaut. Wenn die Entwicklung eskaliert, ist dies jedoch nicht mehr möglich. Das Krankheitsbild manifestiert sich, führt unbehandelt nach wenigen Monaten zum Ausbruch einer Akuten Myeloische Leukämie (AML) und schließlich zum Tod.

Fortsetzung, Teil 2: Auf "Am Wind Kurs" - Geburtstag feiern im Krankenhaus



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7 comments
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Super erklärt und echt hartes Schicksal, wohl auch ein Grund warum upvotes und replys sich in Grenzen halten...war nach dem Lesen wie versteinert. Wünsche dir auf jeden Fall viel Kraft und alles Gute!

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Ja. Ich habe mich am 23. Juli 2016 bei Steemit angemeldet und einige Artikel verfasst. Wenige Tage darauf erhielt ich diese niederschmetternde Diagnose. Das musste ich erst mal verarbeiten. Im August 2016 haben mich die Ärzte 'unter Protest' in den geplanten Urlaub fahren lassen. Danach musste ich sofort ins Krankenhaus... Ich werde weiter berichten.

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Vielen Dank für deine guten Wünsche. Nehme ich dankbar an, kann ich brauchen.

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Lieber germansailor, wir drücken Dir alle die Daumen und wünschen, dass alles mit der Therapie klappt!
Und grosses Kompliment- der Schreibstil zwischen gestern und heute, dazu etwas selbstironisch angehaucht, ist klasse und liest sich gut.
Beste Grüsse von Heifisch und Mann sowie allen tradu's

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Recht vielen Dank! Ich bin äußerst optimistisch.
Liebe Heifisch, den Nicknamen finde ich sehr schön.

_____/)______

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